In Rumaenien passiert gerade ein bisschen Revolution – und ich war (nur) dabei
Die Lokalwahlen vom 27. 09. 2020 waren denkwuerdig, brachten sie doch (bei klassisch geringer Wahlbeteiligung) endlich mal den Willen der Waehlerschaft zur Geltung. Was? Wie jetzt? Das ist doch banal, selbstverstaendlich und ueberhaupt Sinn der Uebung, wuerden Sie sagen! Meine Antwort darauf: Im europaeischen Musterland der institutionalisierten Abnormalitaeten, Absurditaeten, MIssbraeuche und Unfaehigkeiten jeglicher Art ist DAS bereits eine Revolution, dass die Waehler ueberhaupt etwas zu Waehlen haben! Denn das politische Spektrum Rumaeniens nach 1989 war und wird teilweise immer noch von Mutanten ein und desselben Machtkluengels oligopolistisch dominiert – eines Machtkluengels mit tiefen Wurzeln im nationalkommunistischen Totalitarismus der Ceausescu-Zeit. Dieser Machtkluengel jagte alle vier Jahre die Waehlerschaft mit mehr oder weniger (un)vernuenftigen Versprechen hin und her, um sich dann frisch legitimiert erneut auf die von der Waehlerschaft finanzierte Beute (den Staat / das Gemeinwesen) zu stuerzen.
Mit krass diskríminierenden Parteien- und Wahlgesetzen hielt der Machtkluengel die Waehlerschaft bis um 2015 davon ab, sich politisch frei und ungehindert organisieren zu koennen – schlicht und einfach, weil es uebermenschlicher Anstrengungen bedurfte, um ueberhaupt eine Partei gruenden “zu duerfen”. Diese Regelungen fielen jedoch dem Verfassungsgericht zum Opfer – als sich jemand kaltschnaeuzig traute, das Verfassungsgericht in dieser Frage anzurufen. Bald schon spriessten nach 2015 die ersten zarten Parteipflaenzchen. Manche gingen wieder ein, andere gediehen recht gut, bei anderen wiederum “roch” man, dass sie vom Tiefen Staat geduengt wurden – sprich diskret gekapert worden waren. Aber immerhin, neue Gesichter, neue Namen, neue Ideen, neue Themen kamen in die oeffentliche Debatte und ab 2016 mit den ersten gewaehlten Volksvertretern in einzelnen Stadtraeten und dem Parlament auch in die oeffentlichen Macht- und Entscheidungzentren, die – neben den Geheimdiensten – in Rumaenien auch ein Woertchen (mit) zu reden haben.
Die jetzigen Wahlen konsolidierten die Stellung der beiden staerksten Jungparteien USR und PLUS (im Buendnis USR-PLUS), waehrend sich POL in und um seine Heimatbasis Neumarkt / Tg. Mures / Marosvasarhely etwas geschwaecht weiter im Stadtrat behaupten konnte, d.h., trotz sehr knapper Ressourcen nicht wirklich enttaeuscht hat. USR-PLUS produzierte in gleich vier grossen Kreisstaedten und in der Hauptstadt selbst einen Erdrutschsieg – der ein kleines politisches Erdbeben ausloeste: Die Buergermeisterposten von Temeswar, Kronstadt, Konstanza und Bukarest gingen an dieses (wirtschaftsliberale, teilweise auch oekosoziale) Wahlbuendnis. Hinzu kommt: Auch die Namen der Gewinner wiederspiegeln etwas von der ethnisch-sprachlichen Vielfalt des heutigen Rumaenien, die trotz der traditionellen ethnischen Saeuberungs- und Assimmilationsversuche Rumaeniens seit der Unabhaengigkeit 1878, den Gebietserweiterungen 1918-20, des nationalistischen Isolationismus vor 1989 und des “europaeisch-demokratischen Neonationalismus” danach bis heute ueberlebt hat. Allen Coliban, Dominic Fritz, Clotilde Armand heissen die offiziellen neuen Chefs in Kronstadt/Brasov, Temeswar/Timisoara und im ersten Bezirk in Bukarest.
Neue Weichenstellungen in der Lokalpolitik Rumaeniens…
Clotilde ist eine in Rumaenien angeheiratete Franzoesin, Dominic ein nach Temeswar zugezogener Sozialarbeiter aus dem Schwarzwald. (Allen kenne ich nicht naeher.) Und wie die Geschichte so spielt, verkoerpern Clotilde und Dominic die traditionellen Einflussgroessen im heutigen Rumaenien: Frankreich in Altrumaenien und der deutschsprachige Raum in Siebenbuergen und dem Banat. Auch der ganz grosse Gewinner der Wahl, Nicusor Dan, als (Ober)Buergermeister von Bukarest, ist auf seine Art typisch fuer die neue Politlandschaft. Gebuertig in Fogarasch, Kreis Kronstadt in Siebenbuergen, aufgewachsen in Bukarest und nach Studienaufenthalt der hoeheren Mathematik in Paris nach Bukarest zurueckgekehrt, wo er sich als Aktivist seit 15-20 Jahren (mit einem gewissen Erfolg) fuer den Erhalt der (geschundenen) historischen Altstadt einsetzt.
Diskret revolutionaer ist auch das Wahlergebnis in dem (einst) vorwiegend ungarisch bewohnten Marosvasarhely / Tg. Mures / Neumarkt, wo nach einem halben Jahrhundert aggressiver rumaenischer Kolonisierungspolitik, die drei Monate nach der blutigen (inszenierten) “Revolution” im Dezember 1989 in einer tragischen, pogromartigen Massenschlaegerei zwischen Rumaenen und Ungarn kulminierte – die alteingesessene ungarische Bevoelkerung symbolisch erneut zu mehr Rechten kommt, nachdem (auch mit vielen Stimmen ethnischer Rumaenen) der Ungar Zoltan Soos als Stadtoberhaupt gewaehlt wurde und der einst zugezogene, ungarn- und romafeindliche nationalistisch-rassistische Altbuergermeister Dorin Florea abtrat. Dabei haette Soos schon 2016 ins Buergermeisteramt einziehen koennen, haetten er und sein “kluengelerfahrener” Ungarnverband sich mehr um die paar extra Stimmen der rumaenischen Mitbuerger bemueht. Am diesjaehrigen frischen Wahlsieg soll ausserdem die (ueberethnische) Lokalpartei POL diskret mitgewirkt haben, die seit vier Jahren im Stadtrat sitzt und die ethnozentrischen (Schuetzen)Graeben zwischen den (strukturell privilegierten) Rumaenen und (strukturell diskriminierten) Ungarn zu ueberwinden trachtet.
Ach, ja, und in Hermannstadt / Sibiu wurde Astrid Fodor als Buergermeisterin (in der Nachfolge des medial uebergehypten Klaus Johannis) bestaetigt, wenn auch das Demokratische Forum der Deutschen in Rumaenien (DFDR) Stadtraete an die National(istisch)liberale Partei verlor. Dass in Hermannstadt trotz verschwindend geringer Zahl von Sb. Sachsen seit dem Jahr 2000 ein Siebenbuerger Sachse Buergermeister (und heute Staatspraesident) sein darf, in Neumarkt trotz der plusminus 50% Ungarn ein ungarischer Buergermeister seit 1990 auf Biegen und Brechen verhindert worden ist, ist mMn. in beiden Faellen dem Tiefen Staat, sprich den parasitaeren Geheimdienstnetzwerken in Politik, Verwaltung, Medien, Wirtschaft, Bildungssektor usw. zu verdanken, die in Rumaenien nach wie vor bestimmen, was “real” sein darf und was nicht. Ob Frau Fodor und Herr Soos wirklich gute Buergermeister sind, duerfen sie ab nun (erneut) unter Beweis stellen.
Was mir noch einfaellt: Nicusor Dan kenne ich persoenlich und schaetze ihn sehr. Um 2007-2008 traf ich ihn in Bukarest bei einer oeffentlichen Anhoehrung zur Novellierung des umstrittenen Stadtplanungsgesetzes (Nr. 350/2001). Ich hatte mich zu jener Zeit gerade in Schaessburg dran gemacht, die hochkorrupte, destruktiv agierende Stadtverwaltung mit Verwaltungsklagen zu ueberziehen. Bei einem kurzen Spaziergang in der bukarester Altstadt riet ich Nicusor, selbiges in Bukarest zu tun, weil die “Grosskopfeten” in Rumaenien scheinbar keine andere Sprache verstehen als den Kampf mit harten (und sehr harten) Bandagen – und wenn wir ueberhaupt etwas erreichen wollen, dann muessen wir mutig in diesen Boxring steigen. Kurz darauf begann Nicusors Verein Asociatia Salvati Bucurestiul die Prozesslawine gegen Buergermeister und Stadrat in Rumaeniens Hauptstadt. Haette er selbstverstaendlich auch ohne meinen Rat getan, es ist aber auch im Nachhinein schoen zu erleben, wenn man zur Richtigen Zeit das Richtige getan/gesagt hat, auch wenn 90% der Gesellschaft zu jener Zeit nur am manischen Geldverdienen interessiert schien und unsereins, die versuchten, das Gemeinwohl im Auge zu behalten, wie exotische bis weltfremde Marsmaennchen bestaunt wurden. Aus dem Verein Salvati Bucurestiul wurde die lokale Partei Uniunea Salvati Bucurestiul. Und der Schritt zur Gruendung von Uniunea Salvati Romania (USR) war nur folgerichtig…
Und was mir ausserdem einfaellt: Den epochalen Umsturz im Dezember 1989 erlebte ich zufaellig auf der Strasse und mit den Protestierern in der Stadtmitte in Marosvasarhely / Tg. Mures. Ich werde es nie vergessen, als ich in einem Demonstrationszug ein Plakat sah, auf dem tatsaechlich zu lesen war: “Romani, maghiari, germani – impreuna vom invinge!” Also, “Rumaenen, Ungarn, Deutsche – gemeinsam werden wir siegen”! Dieser Slogan sprach das aus, was ich selbst dachte, fuehlte, als selbstverstaendlich ansah, ohne die Worte dafuer zu haben: eine Solidaritaet ueber wie auch immer geartete Gruppenzugehoerigkeiten hinweg. Mitte Maerz 1990 sah ich dann mit Entsetzen im deutschen Fernsehen (meine Familie und ich waren eben erst als Spaetaussiedler nach Deutschland ausgewandert), wie sich auf dem auch mir so vertrauten zentralen Platz in Marosvasarhely, wo ich den Sturz der kommunistischen Diktatur erlebt hatte, Rumaenen und Ungarn unter den Augen der untaetigen Armee gegenseitig (tot)pruegelten. Warum? Weil die Ungarn die neue Freiheit und Demokratie ernstgenommen und ihre legitimen Rechte auf ungarische Schulbildung und Sprachnutzung in der Oeffentlichkeit einzufordern “gewagt” hatten, waehrend die ethnisich rumaenischen Eliten vor Ort und in Bukarest dieses der eigenen, meist kuenstlich angesiedelten bzw. mit Bussen in die Stadt geholten Bevoelkerung und Demonstranten als gewalttaetigen Anschlussversuch Siebenbuergens an Ungarn umdeuteten und “erfolgreich” eingefloesst hatten. Pulverfass plus Funke ist gleich Explosion.
Der “Schwarze Maerz” von Tg. Mures sollte der grosse Auftakt fuer mehrere Monate und Jahre gewalttaetiger, nationalistisch aufgeladener/inszenierter Rueckzugsgefechte der ehemaligen nationalkommunistischen Machthaber auf allen Ebenen der Gesellschaft sein (siehe auch die mehrmaligen Pruegelexpeditionen der Bergarbeiter aus dem Schiltal nach Bukarest in den 1990er Jahren). Dieser Kampf wird der hinter den Kulissen in abgeschwaechter und abgewandelter Form bis heute weitergefuehrt – ein Kampf, in dem die Vertreter der Normalitaet und des friedlichen Zusammenlebens sozialer und ethnischer Gruppen am 27. 09. 2020 einen (neuen) Etappensieg errungen haben. Schauen wir mal, ob und was sich die Gegenseite der Hasser, Frustrierten und Kleptokraten wieder einmal als Antwort darauf wieder mal ausdenken wird – z.B. die bereits praktizierte, taktisch motivierte Zusammenarbeit mit den heranwachsenden Jungparteien zwecks Sicherung der Pfruende und evtl. Unterwanderung von deren Glaubwuerdigkeit. Oder auch nationalistische Hetzkampagnen, wie im Fruehjahr auf beschaemende und schockierende Art vom Staatspraesidenten Klaus Johannis hoechstselbst losgetreten… (Fast) Alles ist moeglich in Rumaenien und schon sehr bald kommen die Parlamentswahlen!
Bei dieser Minirevolution vom vergangenem Sonntag war ich leider nicht mittendrin, sondern nur “dabei” (um einen einst beruehmten Werbespruch in Deutschland zu bemuehen), da ich zu meiner Schande in Rumaenien aus Allergie vor der Buerokratie immer noch nicht offiziell gemeldet bin, somit bei Lokalwahlen nicht waehlen darf. Gut zu wissen immerhin, dass ich mich nun auch quasi offiziell zur “Avangarde der Normalos” zaehlen kann.
…Und seit einigen Jahren schon beackere ich (und inzwischen auch viele andere) das schwierige Thema der uebermaessigen und oft illegalen Entwaldungen und generell der uebermaessigen Ausbeutung der Ressourcen von einigen Wenigen zum Schaden der Allgemeinheit. Auch diese “Avangarde” ist in Rumaenien inzwischen Teil der Normalitaet geworden. Schoen zu sehen. Noch schoener waere es, wenn die Normalos und Oekos demnaechst vermehrt in Entscheidungspositionen kommen wuerden. Die Zeichen stehen gerade nicht schlecht. Seien wir verhalten optimistisch…
Hans Hedrich, am 29. 09. 2020
…unterwegs in einem Zug Richtung Kroatien und Bosnien – zu einer Umwelttagung