Wind, Wellen, Menschen, Müll. Schlüsselerlebnisse einer Wüstenfahrt

 

 

Drei-vier Wochen Erkundungen zum Jahresende 2017 in Südmarokko und der Westsahara hören sich unspektakulär bis belanglos an. Und trotzdem: Weihnachten bei den Wüstenhirten, Neujahr in einem verschlafenen Kurort am Atlantik und das geradezu “groessenwahnsinnige” geologische Schauspiel der Elemente nahe der mauretanischen Grenze bleiben fuer mich Reiseerlebnisse jenseits des rein “Touristischen”. Es war dieses meine dritte – ich nenne es ganz unbescheiden – ‘Expedition’ in Nordafrika; nach einer gelungenen Algerienreise 1992 und einem ungelungenen Hippietrip nach Aegypten 1993. 25 Jahre spaeter also erneut “daheim” in der Wueste… 🙂

1. Heiligabend verbrachten wir in gebirgiger Steinwüste suedöstlich von Guelmim – Schaf- und Ziegenhirten in der Oednis, begleitet von ein paar Eseln und Dromedaren, drumherum höhlenartige Felsvorsprünge, Lehmbauten und Nomadenzelte als Behausung. Und nachts der funkelnde Sternenhimmel. Sie boten uns nicht nur eine biblische “Kulisse” wie vor 2000 Jahren, sondern fuehrten uns unerwartet und ungefiltert jene immer gleiche, extreme Lebenswelt des Ausgeliefertseins an die Übermacht der Natur vor Augen, die ueber die Jahrtausende hinweg das hervorbrachten, was wir heute als jüdische, christliche und muslimische Religionen kennen.

Mir persoenlich erscheinen genannte Religionen und ihre Konfessionen nach diesem Erlebnis erst recht wie ein einziges, grosses Kontinuum in zahlreichen Variationen, Interpretationen, Nuancen und Schattierungen. Der Mensch und die Umwelt, die diese Religionen schufen, sind aber im Wesentlichen die gleichen, ebenso wie die innere Struktur dieser Religionen, die einen willkuerlich-strafenden-und-liebenden Gott “dort oben” dem suchenden, woertlich und metaphorisch herumirrenden Menschen “hier unten” gegenueberstellen.

2. Silvester und Neujahr erlebten wir auf den leeren Strassen der kleinen Kuestenstadt El Ouatia im suedlichsten Zipfel Marokkos als praktisch irrelevantes, genauer gesagt inexistentes (Un)ereignis der Extraklasse. Die Strandlokale waren am 31. 12. 2017 bis auf sehr wenige Ausnahmen geschlossen, diese sehr wenigen Ausnahmen wiederum liessen uns wissen, dass sie gegen halb zehn abends(!) ebenfalls schliessen werden – selbst die handvoll europaeischer Abenteuerreisende und Dauercamper bzw. deren locker sitzendes Geld waren kein Grund mindestens bis Mitternacht offenzuhalten. Und die einheimische (maennliche) Jugend? Die hing in Kleingruppen oder alleine an der Strassenecke oder vor einem Gemueseladen herum, quatschte oder starrte im Dunkeln aufs Smartphone. Zur Jahreswende um Punkt null Uhr, liess der Laden scheppernd das Rollo runter, die Jungs verzogen sich heimwaerts, waehrend eine Mamma und ihre zwei pubertierenden Toechter in ihren langen Gewaendern noch rasch ueber die staubige Gasse eilten. Ende der Party.

Was bei diesem Erlebnis fuer mich so “Schluessel” war? Zum Beispiel der Eindruck von der scheinbar fehlenden Kultur des Feierns ohne religioesen Anlass, in gemischtgeschlechtlicher Gesellschaft, eventuell sogar unter Teenagern. Wo lernen denn die heranwachsenden Maedel und Jungen den direkten Umgang miteinander (ausser im familiaeren Umfeld)? Wo und wann geschieht denn das gegenseitige “Annaehern” und “Kennenlernen” vor der (ausgehandelten) Ehe? Moeglicherweise “nirgendwo” und “nie”. Weil alles vorgegeben ist, wie es zu sein hat? Weil es schon immer so war? Erklaeren sich moeglicherweise so auch die frustigen, latent bis offen wuetend-aggressiven Momente der Enthemmung eben jener jungen maennlichen Maghrebmigranten im feierfreudigen bis -wuetigen Europa? Stichwort “Koeln” 2016. Berlin 2017?

Und ich frage mich auch gerade, ob mein Erlebnis Nr. 1 und Nr. 2 subtil zusammenhaengen – also das zwangsasketische Wuestendasein und das Wenig-bis-Nichts-zu-Feiern-Haben im Leben (ausser wenn es nach dem religioes verordneten Nichtessen wieder Essen gibt)… Und vielleicht fragt sich gerade ein unbekannter muslimischer oder traditionaler juedischer, japanischer, hindu, dogon, qechua, polynesischer usw. Zeitgenosse, wieso und warum und ueberhaupt er/sie bitteschoen an einem Tag namens “1. Januar” den Beginn des Jahres “2018 nach Christus” feiern soll. Also, wirklich! Wieso in aller Welt ‘muss’ die ganze Welt diesen Moment kollektiv und voller Vorfreude feiern?

3. Wo ueber 1000-2000 Kilometer hinweg weites, heisses Land mit weitem, kaltem Wasser zusammentreffen und der bestaendige, stuermische Nordostwind aus dem Wuesteninneren das Tosen der Wellen und Bersten des Gesteins zu einer konstanten akustischen und existentiellen Zumutung uebersteuert, frage ich mich, was ich mich dabei fragen soll, ohne platt oder bombastisch zu wirken. Vergeht hier die Zeit langsamer? Oder schneller? Oder gar nicht? Oder gibt es sie gar nicht? Oder wie? Oder was? Und wie bitte gelangten die Muscheln und Schneckenfossilien auf dieses felsige Plateau 60m ueber dem Ozean?
Meine Phantasie und vage Erinnerung an Wikipedia-Eintraege gehen in Richtung massiver tektonischer Verschiebungen, Verwerfungen, Hebungen, Senkungen, Ueberlagerungen und Unterwanderungen von Kontinentalplatten und sonstiger geologischer Grossereignisse in Zeitdimensionen die mich etwas ueberfordern. Was uns nach ewigem Stillstand aussieht, ist in Wirklichkeit eine tagtaegliche, gigantische Bewegung von Gesteinsmassen – im gigantisch winzigen Nanometer-Bereich.

Eines kann ich mit Sicherheit sagen: Die Autofahrt bei 80-90 km/h auf der Asphaltpiste Richtung tiefer Sueden, eingehuellt vom Gleissen des quarzigen Sonnenlichtes wirkten auf mich wie ein sehr, sehr, sehr langsames, unentschlossenes Dahinzuckeln durch’s Irgendwo im Nirgendwo. Antoine de Saint-Exupery laesst gruessen. Keine Uebertreibung: Ueber mehrere Kilometer hinweg in diesem gefuehlt grenzenlosen Niemandsland fragte ich mich waehrend der Fahrt ernsthaft, ob die unbekannten, funkelnden Lichtreflexe um mich herum nicht vielleicht ein Anzeichen fuer einen Hirnschlag oder sonst eine sich ankuendigende hinterhaeltige Krankheitsattacke sind.

Und spaet abends glueht hinterm Horizont bei Dakhla des letzte Tageslicht in leicht uebertriebenen Rot- und Orangetoenen aus, die Ebbe flirtet gerade wieder mit der Flut und die Duenen und Felsen am Wasser heben sich schweigsam vom Sternenhimmel ab, der sich wieder einmal satt und selbstzufrieden um sich selbst dreht und dabei grosszuegig und gnaedig die Galaxie aus Plastik- und Gedankenmuell auf einem Sandkorn namens Erde uebersieht.

Tarroudant, den 08. 01. 2018
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DSCF7072  DSCF7092 Oben: Weihnachten, biblisch DSCF7140 DSCF7371 DSCF7557 DSCF7518 DSCF7700Fotos oben: Wueste, ewig DSCF7814 DSCF7891 DSCF7892 DSCF7904 Fotos oben: Silvester, unwichtig (Vogelschwaerme als Feuerwerksersatz…) DSCF7916Foto oben: Plastikmuell, farbig

Posted by at 09/01/2018
Filed in category: Kultur & Gut, Leben & Sinn, Natur & Schutz,

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