“Spaeter wurde alles noch viel schlimmer!” Eindruecke von der Nationalismustagung in Budapest
Das Zitat im Titel stammt vom thematischen Organisator der Budapester Tagung “Nationalstaat und ethnische Homogenisierung in Ungarn und Rumaenien von 1867 bis 1914“, dem Suedosteuropahistoriker Gerhard Seewann aus Fuenfkirchen/Pecs; der Satz fiel waehrend der Abschlussdiskussion am heutigen Samstag und fasst das in knappe Worte, was dem aufmerksamen Forscher/Beobachter erst nach laengerer Beschaeftigung mit dem Thema der Magyarisierung im Grossungarn der genannten Periode auffaellt.
Oder anders gedacht: Die Praxis der staatlicherseits betriebenen ungarischen ethnischen Homogenisierung im langen 19. und jungen 2o. Jahrhundert ist ueber die letzten Jahrzehnte intensiv bis sehr intensiv erforscht, dargestellt, verurteilt und medial gestreut worden – was an sich korrekt und notwendig war, weil es auch ein Akt der Wiedergutmachung gegenueber den ‘Opfernationen’ dieser Politiken darstellt. Andererseits wurde die einstige Magyarisierung nach 1918 in den neuen Staaten der ‘Opfernationen’ dazu missbraucht, den Ungarn eben jene Rechte zu verweigern, die man früher selbst vom ungarischen Staat eingefordert hatte.
Waehrend der Tagung im Spiegelsaal des Festetics-Palais
Die Beitraege der Tagung widmeten sich auch entsprechend Einzelaspekten der Problematik – mit Schwerpunkt Magyarisierung (…und nicht etwa Rumaenisierung, wie man national voreingenommen von einer in Ungarn organisierten Tagung ueber ein ungarisch-rumaenisches Thema vermuten koennte).
– Judit Pal aus Klausenburg ging in ihrem Eroeffnungsvortrag der Wandlung der drei siebenbuergischen Staendenationen zu modernen Nationen nach und den zugrundeliegenden Aengsten der einen ethnischen Gruppe vor der jeweils anderen. Der auch heute akute Fahnenkult in Teilen der rumaenischen und ungarischen Gesellschaft hatte in jener Zeit seine Anfaenge…
– Gabor Egry aus Budapest (dessen Beitrag ich leider verpasste) betrachtete die ungarische Nationalitaetenpolitik und -praxis von regionaler und lokaler Ebene in den nichtungarischen Regionen des Landes aus, was die Politiken der Budapester Zentrale teilweise abschwaechte oder konterkarrierte.
– Friedrich Gotta (Salzburg) ging dem Akkulturations- und Assimilationsprozess der Zipser Sachsen in Oberungarn/Slowakei nach. Interessant zu sehen war, wie selbstverstaendlich der jahrhunderte lang gewachsene Hungarus-Patriotismus dieser Gruppe im ausgehenden 19. Jh. in proaktive Assimilationsbereitschaft und -begeisterung ueberging, ohne von deutschnationalen Identitaetselementen konterkarriert zu werden.
– Andras Balogh, Germanist aus Klausenburg, untersuchte die Sichtweise von Reisenden im 19. Jh. auf diverse Nationalitaeten Ungarns sowie auf den laendlichen und urbanen Raum. Der eine begeisterte sich am Exotischen der isolierten Gebirgsvoelker, der andere konnte nur dem “modernen” Budapest etwas abgewinnen.
– Eniko Dacz (Muenchen) widmete sich den Ethnizitaesdiskursen dreier siebenbuergischer Zeitungen (Ellenzek, Telegraful Roman, Kronstaedter Zeitung).
– Agnieszka Barszczewska aus Warschau verglich die nationalistische Hegemonie des rumaenischen Staates gegenueber den Csangos und jene des ungarischen Staates gegenueber den Russinen.
– Victor Karady spuerte dem hoeheren Bildungsgrad von Juden und Deutschen gegenueber anderen Nationalitaeten in Ungarn anhand der Immatrikulationsstatistiken von Universitaeten nach.
– Elena Mannova (Pressburg/Bratislava) begab sich auf die Spuren der Vereinskulturen der jeweiligen Ethnien in Oberungarn (heute Slowakei) nach (Ungarn, Slowaken, Deutsche)
– Josef Wolf (Tuebingen) zeigte auf, wie spannend die Entstehung von Nationalitaetenlandkarten sein kann – und wie gross die Moeglichkeiten der staatlich motivierten Manipulation allein schon durch die Verwendung kraeftiger, kontrastierender Farben fuer die einzelnen Ethnien sind.
– Ursula Wittstock aus Hermannstadt schloss mit einem Vortrag ueber die Schwierigkeiten der Gruendung eines rumaenischsprachigen Nationaltheaters in Siebenbuergen, das als Buehne der Volkserziehung im nationalen Geiste fungieren sollte…
Und in der Abschlussdiskussion folgten die bereits gemachten Feststellungen darueber, dass der Staatsnationalismus im 19 Jh. trotz aller kleinkarrierter Schikanen im Rueckblick als relativ harmlos agesehen werden kann, wenn man sieht, was waehrend der Kriegsjahrzehnte im 2o. Jh. sowie nach dem Zerfall Jugoslawiens fuer nationalistisch motivierte Graeul ueber Europa kamen…
Bemaengelt wurde an der Tagung, das der Staat Rumaenien in den Praesentationen zu kurz gekommen war. Angeregt wurde ausserdem der Vergleich des Staatsnationalismus Ungarns mit jenem anderer europaeischer Staaten, was den breit mediatisierten Einzelfall Ungarn kontextualisieren wuerde. Wie aus einem Kommentar zu einem der Beitraege deutlich geworden war, fehlt diese vergleichende Perspektive noch weitestgehend – unde wuerde die Feststellung im Titel dieses Blogartikels wissenschaftlich untermauern: “Spaeter (und in anderen Laendern) wurde alles noch viel schlimmer.”