“Sieranevada” – oder: Eingeholt vom Ueber-Ich
Cristi Puius Erstlingserfolg “Moartea domnului Lazarescu / Der Tod des Herrn Lazarescu” hab ich immer noch nicht gesehen. Anno damals, um 2005, weigerte sich der Laptop das raubkopierte Video abzuspielen. So kam es, dass mein erster Eindruck von Cristi Puiu ein rein persoenlicher war, bei einer masterclass mit dem Meister der “Neuen Welle” des rumaensichen Films hoechstselbst. Der Eindruck war ein eher negativer gewesen. Deshalb war ich mir nicht sicher, ob ich mir seine aktuellste Familiendramoedie mit dem eskapistisch angehauchten Titel ‘Sieranevada’ ueberhaupt antun will. Keine Lust auf neue und neue Bukarester Nabelschauen – wie so oft im rumaenischen Kino, ehrlich gesagt.
Habe es dann aber doch getan – und es gar nicht bereut. Denn: Der Film ist definitiv viel, viel mehr als nur eine dreistuendige Achterbahnfahrt durch die Befindlichkeiten, Traumata und sonstigen Familiengeschichten einer relativ duschschnittlichen groesseren, buergerlichen, verzweigten Grossstadtfamilie. Warum? Weil sich jenseits der eigentlichen Handlung(slosigkeit) – ueberwiegend in einer typischen Wohnblocksiedlung waehrend einer orthodoxen Trauerfeier vierzig Tage nach dem Tod des Vaters des Hauptdarstellers Lary – auf einer zweiten Erzahlebene eine Art Lebenszyklus abspielt: von der Zeugung bis jenseits des Todes. Einige Protagonisten durchlaufen eine kreisfoermige Entwicklung, an deren Ende – beispielhaft am nerdigen Sebi durchexerziert – die selbstverstaendliche Integration in einen groesseren kulturellen, religioesen und ueberhaupt Lebenskreislauf steht. Wunderschoen die Szenen, in denen Sebi die ueberdimesionierten Hosen des Dahingeschiedenen anziehen, mithin seine Rolle als Mann und Nachkomme uebernehmen muss…
Auch sonst belohnt der Film den aufmerksamen Zuschauer – eigentlich Beobachter – mit zahlreichen Pointen und groesseren oder kleineren Entdeckungen und Erkenntnissen.
POINTE: Waehrend und nachdem Lary seiner Frau im Auto vor einer Baustelle die Liebesaffaeren seines verstorbenen Vaters “beichtet”, rattert im Hintergund penetrant (im wahrsten Sinne) ein Schlagbohrhammer…
ERKENNTNIS: Selbst die exotisch (und betrunken) in den Film hereinplatzende kroatische Freundin von Sebis Schwester Cami, an der Sebi ploetzlich maennliche Gefuehle und Interessen verspuert, vermag ihn NICHT aus seinem “Schicksal” als symbolischer Nachfolger des Verstorbenen herauszureissen. Als diese im Nebenzimmer zu weinen beginnt und auch Sebi besorgt (und interessiert) zu ihr hinueber laeuft, passiert nicht viel mehr, als dass sie noch eine Runde, pardon, kotzt und weiterschlaeft. Sebi bleibt nichts anderes uebrig, als zu seinen Cousins am Esstisch zurueck zu kehren und sich von diesen lachend eine Portion “mamaliga” (der traditioenelle rumaenische Maisbrei) neben die erst recht traditionellen “sarmale” (Krautwickel) auf den Teller klatschen zu lassen. Willkommen im kollektiven Ueber-Ich! Geniesse dein Schicksal wie eine Portion sarmale cu mamaliguta!
FAZIT: Sehenswert fuer alle, die sich schon immer schmerzlich-neugierig gefragt haben, was das sonderbare Wesen des Balkanmenschen ausmacht, aber nie auf einen gruenen Zweig kamen. Cristi Puiu erklaert es einem en detail!
Trauer, Gelaechter, Verrat, Vorwuerfe, Popen, Schwangere, Besoffene, BMWs und Krautwickel. Cristi Puius Sieranevada (fragt mich nicht nach dem Sinn des Titels!) sieht so aus, wie sich Goran Bregovics Musik anhoert. Letzteren kann ich nicht mehr hoeren, aber von Erstern wuerde ich gerne mehr sehen!
PS: Dieses Posting ist Chris Kaiser gewidmet! 🙂