Schmetterlingseffekt? Überweidung der syrischen Steppe bringt Europas Gesellschaften in Bedrängnis
Lesung aus dem Buch Wikipedia, 1577. Kapitel:
“Als Schmetterlingseffekt (englisch butterfly effect) bezeichnet man den Effekt, dass in komplexen, nichtlinearen dynamischen, deterministischen Systemen eine große Empfindlichkeit auf kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen besteht. Geringfügig veränderte Anfangsbedingungen können im langfristigen Verlauf zu einer völlig anderen Entwicklung führen. Es gibt hierzu eine bildhafte Veranschaulichung dieses Effekts am Beispiel des Wetters, welche namensgebend für den Schmetterlingseffekt ist: „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?[1]“”
Auf die gegenwärtige Migrationsproblematik angewandt könnte die Hypothese lauten: “Können weidende Schafe in Syrien in einem Dutzend europäischer Länder ernsthafte gesellschaftliche Probleme verursachen?” Die Antwort darauf könnte lauten: JA, im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren wie Klimawandel, diktatorische politische Verhältnisse, schlechtes Wassermanagement, Streichung von Landwirtschaftssubventionen u.ä.
LINK: Over-grazing and desertification in the Syrian steppe are the root causes of war
Die Forscherin Francesca de Chatel ist diesem Themenkomplex über einen längeren Zweitraum nachgegangen und weist in einer kompakten aber umso inhaltsreicheren Studie nach, der langjährige Arbeitsaufenthalte in Syrien und praktische Erfahrungen mit der Problematik vor Ort vorausgegangen waren, wie zentralistisch-pseudosozialistisch inspirierte Umgestaltung der Landwirtschaft in jenem Land vor mehreren Jahrzehnten, gefolgt von einer industriell betriebenen Weidewirtschaft in den Steppengebieten des Landes einhergingen mit einer immer intensiveren Ausbeutung der Grundwasserreserven, die schließlich zu einer weiträumigen ‘Ver-Wüstung’ des Weidelandes führten.
Nachdem in den späten 2000er Jahren wegen ausgedehnten Dürreperioden die wirtschaftliche Existenz von Hunderttausenden von Bauern noch mehr ins Wanken geriet, reichte schließlich die Streichung staatlicher Subventionen für Dieselöl aus (die Bauern pumpten das Grundwasser mit Dieselmotoren auf die Felder und fuhren die Ernten mit dieselbetriebenen Fahrzeugen auf den Markt), um im Kontext des ‘arabischen Frühlings’ um 2011 herum erste Massenproteste – interessanter- und verständlicherweise in ländlichen Gebieten(!) – auch in Syrien auszulösen. Der ‘Rest’ der Geschichte ist bekannt, da er sich gerade vor unseren Augen abspielt…
Kann aus eigenem Erleben dazu folgendes sagen: Mal abgesehen von dem ziemlich bedrückenden Gefühl, das mich bei einer zweimaligen Durchreise von der Türkei nach Jordanien und zurück durch das damals noch ärmlichere und in sich verschlossene Syrien anno 1993 begleitete (Diktatur, mürrische Beamte, wüstenhafte Landschaften, ungeordnete städtische Räume, chaotische Zersiedlung der dörflichen Gebiete, ständiger Gegenverkehr auf der Autobahn(!), fehlende oder kaum leserliche Verkehrsschilder usw.), habe ich eine Begegnung im Flüchtlings- und Migrantenlager von Opatovac in Kroatien vor gerade einmal 2-3 Wochen vor Augen:
…War bei der Kleiderausgabe mit mehreren wartenden Männern ins Gespräch gekommen. Einer davon stellte sich als stolzer “Beduine” vor, der einst in Syrien viele Schafe besessen haben soll und in einem Stammesverband gelebt hatte. Jetzt war er einer von Millionen Syrern, die über die Balkanroute gen Nordwesten strebten… Eben diesen Typus von (entwurzeltem, verarmtem) syrischem Landbewohner macht Francesca de Chatel in ihrer Studie als Protestierer der ersten Stunde gegend as Assad-Regime aus.
Links im Bild: Überweidete, wüstenähnliche Landschaft in Syrien. Rechts im Bild, von einem Zaun getrennt, ein Schutzgebiet mit stark eingeschränkter Weidetätigkeit. Fotoquelle: Gianluca Serra; in The Ecologist
Wartende Busse im Lager Opatovac. Damit fahren gegenwärtig auch ehemals in Syrien nomadisierende, ihrer Lebensgrundlage beraubte Schafhalter in westeuropäische Industriestaaten…