Ein Tag in der Märchenwelt der Luxusschäfer
Das Gebirgsdorf P.S. liegt gar nicht weit vom schicken, urbanen Hermanstadt und scheint doch in einer Parallelwelt angesiedelt zu sein, die eher wenig mit der uns bekannten zu tun zu haben scheint. In etwa 880m Hoehe ueberm Meerespiegel und 15 km Luftlinie von der Landstrasse Hermannstadt/Sibiu – Muehlbach – Deva – Arad schwebt es seit Jahrzehnten, oder eher Jahrhunderten gleichermassen ueber Raum und Zeit – und scheinbar auch ueber dem Klischee von Rumaenien als – jammer, schnief! heul! – “Armenhaus Europas”.
Die wenigsten P.S-ler wohnen in normalen Haeusern, sondern zum ueberwiegenden Teil in eher ueberdimensionierten, wenn auch aesthetisch verunglueckten Dorfpalazzos mit mehreren hundert Quadratmetern Wohnflaeche.
Und fortbewegen tun sich die Wenigsten zu Fuss oder mit einem schnoeden “Auto” – Dacias scheinen hier ueberhaupt Fahrverbot zu haben -, sondern in der Regel mit den neuesten Luxuslimousinen und Autobahngelaendewagen deutscher Premiumhersteller, wobei sie als Zweitwagen gerne bullige Japanerjeeps mit einer Extraportion Chrom nehmen. Schliesse daraus, dass die Nachricht von der Finanzkrise, die auch die rumaenische Wirtschaft gerade kraeftig(st) durchschuettelt noch nicht bis in diesen entlegenen Zipfel Suedsiebenbuergens vorgedrungen ist, was nur daran liegen kann, dass die Leute hier bevorzugt Volksmusiktevausender schauen und eher selten Realitatea TV, CNN oder die ARD Tagesthemen.
Was hier auch nicht angekommen zu sein scheint, ist die Mode westlicher/europaeischer Kopfbedeckungen bei Maennern jeglichen Alters – sprich Hut mit Krempe, Baseballkappe, Strickmuetze oder sonstige staedtische Kopf- oder Glatzeschutzvorrichtungen -, tragen doch die meisten Mannen hier eigentuemlich hohe, balkanisch-orientalisch anmutenden Lammfellmuetzen (schon seit den fruehen 60ern mega-out!) oder aber putzige, halbkugelfoermige Filzhuetchen, die gerade einmal die halbe Kopfspitze bedecken. Frauen ab 60 huellen sich von Kopf bis Fuss bevorzugt in schweres, schwarzes (Kopf)Tuch.
Was man den Leuten hier auch nicht beigebracht hat, ist die Selbstverstaendlichkeit, dass man zum Reichwerden heutzutage mindestens einen MBA-Abschluss mit Bestnote samt Einstiegsjob bei renommierten Grosskonzernen oder alternativ eine hochprofessionell gecoachte Firmengruendungung im IT-Bereich hinlegen muss. Diese hier schaffen die erste (zweite, dritte, zehnte) Million in der Regel mit 8 (acht) Volksschulklassen – das reicht aber scheinbar aus um ihre bis zu 2000 Schaefchen auf der Weide und Zigtausend Euro jaehricher EU-Agrarsubventionen auf dem Bankkonto fehlerfrei zu zaehlen.
Was den Schafhirten – denn das waren/sind mindestens 80% der Bewohner – hier oben auch fehlt, das ist das Wissen, dass wohlhabende, reiche oder sehr, sehr reiche Leute in einem suedosteuropaeischen Land tendentiell derbe, aggressiv-egomanische, erpresserische Halsabschneider ohne Skupel dafuer aber mit vielen und guten Kontakten zu ebenso skrupelbefreiten Polizeichefs, Politikern und sonstigen Prostituierten sind. Diese Reichen hier sind fast durch die Bank freundlich, welt- und wortgewandt, ernsthaft und arbeitsam. Den Grad ihrer Vernetzung, Verwandtschaft und Verschwaegerung mit Polizei, Politiker und so weiter habe ich in der Kuerze der Zeit jedoch nicht recherchieren koennen.
Die allermeisten Schaefer dieser Gemeinde, die sich seit wer-weiss-wann – laut Urkunden ab 1500 herum – auf dem Boden des sb.-saechsichen Ortes Dobring (Dobarca) im Unterwald entwickelte, waren ueber die Jahrhunderte hinweg traditionell Wanderhirten gewesen. Wegen der sehr geringen Weideflaechen ihrer Siedlung – um die 2200 ha. – sahen sich die Schafsbesitzer allerdings gezwungen zusaetzliche Weideflaechen zu suchen – und wurden oft erst in Hunderten Kilometern Entfernung fuendig: in der Baragan-Steppe, im Donaudelta oder im Banat. Dafuer pachteten oder kauften sie sich dort auch schon mal 1000 ha – pro Person, versteht sich. Bis kurz nach 1989 zogen sie ueber Generationen hinweg im Herbst gen Sueden oder Westen in die Ebenen – Frau und Kinder liessen sie waehrenddessen im Dorf zurueck. Im Sommer wiederum zogen sie samt Familie in die Suedkarpaten.
In den letzten Jahren haben sich die Besitzverhaeltnisse von Grund und Boden allerdings sehr zuungunsten dieser Teilzeitnomaden geaendert (Rueckerstattungen, Stadtentwicklung, Infrastrukturprojekte, neue Regelungen), so dass sie sich mittlerweile zwei Wohnorte zugelegt haben: einen in der Ebene, wo sie auch die Schafherden halten und einen im heimatlichen Gebirgsdorf.
Die Kennzeichen ihrer BMWs, Touaregs und Porsche Cayennes, die an den Wochenenden im Dorf P.S. rauf und runter walzen, wenn die Maenner ihre Familien zuhause aufsuchen, erzaehlen vom geographischen Doppelleben, das diese Familien seit einiger Zeit zwischen Tulcea, Temesch, Arad, Braila und dem heimatlichen Kreis Hermannstadt leben. Dazwischen liegen in der Regel 300-600 km Landstrasse.
Was man diesen kosmopolitischen Hinterwaeldlern auch beibringen muesste, ist die zivilisierte und marktkonforme Sitte, dass man Leute – und erst recht den Herrn Buergermeister – nicht mir nix dir nix beim Mittagessen ueberfaellt und sie mit journalistischen Fragen belaestigt, so wie wir das getan haben, sondern mit ihnen erst telefonisch einen Termin vereinbart. In P.S. laden sie einen stattdessen spontan, naiv und insistent zum Mitessen ein! Also, so wird das nix mit dem individualistischen Kapitalismus westlicher Praaegung in Rumaenien, Leute!
So mancher ehemalige oier/cioban hat es jedoch auch in letztgenannter Disziplin relativ weit gebracht. Der eine ist heute stolzer Besitzer einer privaten Grossklinik und einer landesweiten Apothekenkette; der andere nennt zahlreiche Tankstellen sein eigen – und ein 12 Stockwerke hohes Luxushotel in Hermannstadt. Uebrigens: Laut rumaenischer Gesetzeslage gilt erworbenes Vermoegen grundsaetzlich als legal erworbenes Vermoegen – es sei denn, jemandem gelingt es tatsaechlich, das Gegenteil zu beweisen…
Ein letzter Kulturschock im Kontakt mit diesem exotischen Bergvolk: Hochzeiten sind hier keine Familienangelegenheit, sondern ein froehliches, aber gleichermassen auch ritualisiert-gemeinschaftsstiftendes Dorffest, zu dem die Damen bevorzugt hochhackige Schuhe und Pelz, die Herren wiederum feinen Zwirn, violette Hemden hoeherer Preisklasse und ein weisses Bluemelein aus Plastik am Anzugrevers tragen. Dahergelaufene Durchreisende mit Fotoapparat und Videokameras wie unsereins werden dabei umgehend in die Hochzeitsgesellschaft integriert – und schlagen sie mal ein Weinglas mit Goldrand zu Bruch, ruft man dem Tolpatsch nur aufmunternd zu: “Scherben bringen Glueck!”.
Fazit: Wollt ihr liebgewonnene Vorurteile ueber Rumaenien, Suedosteuropa, Schafhirten, reiche Leute sowie eure/unsere nichthinterfragt-fragwuerdigen kulturellen Westpraegungen betreffend Familie, Gemeinschaft und Lebensrituale nicht verlieren, fahrt lieber nicht nach Poiana Sibiului – der Ort und die Lebensart der dortigen Menschen haben etwas Ansteckendes!